Zeitwert, Gewöhnung und Verdrossenheit

Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt ihren Sprung ins Ungewisse fort: Sie gab bekannt, dass sie die Kurzfristzinsen noch ein wenig weiter in den negativen Bereich senken und weitere Anleihekäufe tätigen wird. Vor einigen Monaten ließ sie noch ganz andere Töne verlauten. Zwei Elemente sprachen gegen eine Fortsetzung dieser Politik: die Key Capital Ratio (die Tatsache, dass die EZB nicht mehr als 33% einer Anleiheemission halten darf) und das Risiko für das Bankensystem, langfristig mit Negativzinsen leben zu müssen – an das die EZB ausdrücklich selbst erinnerte.

Diese beiden Probleme wurden kurzerhand beiseite gefegt. So bekräftigen die Zentralbanken nun: „Das ist kein Problem mehr. Wir werden die Zinsen ein wenig senken und etwas mehr Anleihen kaufen. So ist das.“

Welche Auswirkungen wird diese gänzlich neuartige, unkonventionelle und in unserem vor rund 50 Jahren aufgebauten geld- und finanzpolitischen System schlicht unverständliche Politik haben? Die Negativzinsen rütteln am Fundament der Finanzwirtschaft und stellen unsere bisherigen Vorstellungen von Finanzierungs- und Kapitalkosten grundsätzlich in Frage.

Modigliani und Miller weilen nicht mehr unter uns. Es wäre interessant gewesen, ihren Standpunkt zu diesem Thema zu erfahren. Schließlich widmeten sie einen Teil ihrer nobelpreisgekrönten Forschungen der Kapitalstruktur und speziell der Optimierung der Aktien-/Anleihenallokation. Die moderne Finanzwirtschaft und insbesondere das Portfoliomanagement entwickelten sich nach dem Krieg dank der verschiedenen Beiträge von Sharpe, Lintner, Markowitz, Fama, Ross usw. Sie alle vertraten die Theorie, dass ein Leitzins im positiven Bereich existiert, der die Grundlage für den Abzinsungssatz der erwarteten Mittelflüsse bildet. In ihren Modellen ist der Zinssatz positiv, da er eine Art von „Zeitwert“ darstellt: Der Kreditgeber opfert den kurzfristigen Verbrauch, um den Kreditnehmer zu finanzieren, und erhält im Gegenzug eine Entschädigung. Wird bei dieser Transaktion zusätzlich das „Ausfallrisiko“ berücksichtigt, so gelangt man von einem sogenannten „risikolosen“ Zins zu einem Kreditzins.

Diese ganze Denkart bricht derzeit in sich zusammen: Die Kapitalaufnahme kostet nichts mehr, sondern bringt Mittel ein; stattdessen kostet es, Kapital zu verleihen. Die Kreditspreads bleiben positiv. Es ist also der „Zeitwert“ des Geldes, der einem grundlegenden Wandel unterliegt. Die Zentralbanken treiben die „Präferenz für die Gegenwart“ bis an ihre Grenzen. Sparen wird bestraft, Verschulden hingegen belohnt. Die Gleichung S=I, nach der die Ersparnisse (S) der einen die Investitionen (I) der andern finanzieren, ist hinfällig, da die Zentralbank die Finanzierung aller Akteure durch die Geldschöpfung sichert. Die Investitionen werden ebenfalls nicht mehr durch die verfügbaren Ersparnisse begrenzt.

Die Zentralbanken wollen, dass die Wirtschaftsakteure ihre animalischen Instinkte – die von Keynes so bezeichneten „Animal Spirits“ – freisetzen und ihre Einkünfte ausgeben. Das ist der Grund, aus dem sie den Leitzins in den negativen Bereich gedrückt haben. Angesichts dieser unglaublichen Situation könnte man denken, dass die Wirtschaftslage so verzweifelt ist, dass es dazu kommen muss. Doch das ist gar nicht der Fall: Die Arbeitslosenquote befindet sich auf einem Tiefstand, und das Wachstum ist nicht allzu weit von seinem Potenzial entfernt. Das ist der erste Punkt, den man an dieser Politik kritisieren kann: Warum so viel tun, wenn die Lage es gar nicht erfordert?

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Wirksamkeit dieser Maßnahme. In jeder Organisation empfiehlt es sich, die Wirkung einer Entscheidung nach einer gewissen Zeit zu prüfen. War sie richtig? War sie wirksam? Welche Ergebnisse wurden damit erzielt? Wenn die Zinssenkungen und die quantitative Lockerung einen Anstieg der Inflation bewirken sollten, so wurde das Ziel verfehlt. Bestand das Ziel jedoch darin, die „Animal Spirits“ zu wecken und die Sparzinsen zu senken, so ergibt sich ein gemischtes Bild: Der Sparzins ging zwischen 2014 und 2017 tatsächlich zurück, doch er steigt und liegt derzeit erneut auf dem Niveau von 2011, das dem von 2007 entsprach. Sollte die Maßnahme europäischen Unternehmen einen äußerst attraktiven Finanzierungssatz sichern, dann war sie ein Erfolg. Auch wenn damit günstige Bedingungen für europäische Anleger (Aktien- und Anleihegläubiger) geschaffen werden sollten, ist sie als Erfolg zu bewerten.

Doch die Fortsetzung des eingeschlagenen Wegs birgt das Risiko, dass eine gewisse Verdrossenheit entsteht. Genau dies tritt im Lending Survey der EZB zu Tage. Die Wirtschaftsakteure haben verstanden, dass die Zinsen über lange Zeit niedrig bleiben werden. Es besteht daher keine unmittelbare Dringlichkeit, diese Situation auszunutzen. Sie ist nichts Außergewöhnliches mehr, sondern sie ist zur Norm geworden. Darin besteht das Paradox der Forward Guidance: Mit der Mitteilung, dass sie die Zinsen weiter niedrig halten wird, geht die Zentralbank das Risiko ein, die „Animal Spirits“ zu bremsen. Vielleicht erleben wir dies gerade auch auf den Aktienmärkten. Die sinkenden Langzeitzinsen zwischen 2014 und 2016 (über 100 Basispunkte) scheinen zur Neubewertung der Aktien beigetragen zu haben (+1 Punkt beim KGV von US-Aktien). Doch mit dem jüngsten Rückgang seit Ende 2018 (über 150 Basispunkte) ging keine Neubewertung von Aktien einher – im Gegenteil: Die KGVs haben sogar 1,5 Punkte verloren! (Das Ausgangsniveau war bei beiden Zeiträumen indessen ähnlich.)

Die Senkung der Zinsen in den negativen Bereich sollte lediglich eine vorübergehende Maßnahme sein, um auf bisher nie da gewesene Bedingungen zu reagieren. Wird dieser Zustand jedoch als gewöhnlich oder dauerhaft behandelt, verliert die Maßnahme jegliche Wirksamkeit, denn dann geht der Aspekt der „Gelegenheit“ verloren.

Aus finanzieller Sicht wirft die Tatsache, dass Schulden keine Passiva mehr, sondern Aktiva sind, zahlreiche Fragen auf. Was sind die Nebeneffekte? Die Antwort auf diese Frage kennt niemand, denn es gibt keine Präzedenzfälle. Selbst die Japaner wagten sich nicht so weit vor. Sie machten bei -0,1% Halt und führten ein Tiering-System ein, um die Banken zu schützen, was die EZB nicht getan hat.

Konkret liegt derzeit eine Situation vor, in der Investoren miteinander wetteifern, um Unternehmen Geld zu leihen, und für die Chance zahlen, sie zu finanzieren. Für das Kreditrisiko werden sie nicht mehr absolut, sondern nur noch relativ entschädigt. Fremdkapitalkosten entsprechen nunmehr der Cost of Equity. Letztlich haben die Zentralbanken also die Kosten der Zeit für die Wirtschaftsakteure auf Null reduziert. Alle Modelle müssen überarbeitet werden, aber niemand weiß wie. Es war nicht denkbar, dass die Nominalzinsen negativ sein könnten, und Grund für das Handeln der geldpolitischen Entscheidungsträger war die Eindämmung des Deflationsrisikos. Bis wohin kann ihre Deflationsangst die Zinsen treiben? Diese Frage lässt sich nur schwer beantworten, selbst wenn das letztendliche Risiko wohlbekannt ist: Es ist das Risiko eines Bank Run oder Exils in Ländern, die ihre Zinsen nicht in den negativen Bereich gesenkt haben. Wenn Haushalte, die ihre Einlagen nicht geschmälert sehen wollen, beginnen, ihr Geld aus den Banken abzuziehen, wird dieser Geldpolitik Einhalt geboten. In der Schweiz werden bestimmte Einlagen besteuert, und dennoch wird das Geld nicht abgehoben. Vielleicht ist der Punkt, an dem die Negativzinsen an ihre Grenzen stoßen, noch weit entfernt, und man muss sich einfach sagen: „Das ist alles, so ist es einfach.“

Fortsetzung folgt...

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